Editorial von Dr. Philipp Gut

    (Bild: zVg)
    (Bild: zVg)

    Liebe Leserin, lieber Leser

    Leben wir nicht in spannenden Zeiten? Nehmen Sie nur das Beispiel der Schweizer Umweltpolitik. Am Superabstimmungssonntag vom 13. Juni mit gleich fünf Vorlagen wurde das neue CO2-Gesetz vom Stimmvolk abgelehnt. Es war eine faustdicke Überraschung, da Bundesrat, Parlament, fast alle Parteien und Wirtschaftsverbände sich für das CO2-Gesetz ausgesprochen hatten. Im Vorfeld der Abstimmung haben wir die Pro- und Contra-Seite in der «Umwelt Zeitung» ausführlich zu Wort kommen lassen. Ganz nach unserem publizistischen Credo, ein unabhängiges und inspirierendes Forum für Innovation und Debatte zu sein. Ein Ort, wo interessante Themen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden. Eine Bühne, auf der neben professionellen Journalisten immer auch prominente Gastautoren auftreten.

    Diesem Anspruch folgen wir selbstverständlich auch in der jüngsten Ausgabe. Wie geht es nun weiter? Was bedeutet das Ergebnis für die Schweizer Klima- und Energiepolitik der Zukunft?

    Diese Frage haben wir einflussreichen Vertretern unterschiedlicher politischer Lager gestellt, Siegern wie Verlierern des epischen Abstimmungskampfs. Für Nationalrat Christian Wasserfallen ist das Resultat eine «riesige Überraschung». Er spricht von einer «Übermacht an Befürwortern» und einer «einseitigen jahrelangen medialen Kampagne». Umso weniger sei das Nein der Bevölkerung zu erwarten gewesen. Die Schweizerinnen und Schweizer hätten «weise und viel gelassener als die Politik» reagiert: «Die drastischen Kostenfolgen und die unfairen neuen Steuern wie jene auf Flugtickets wurden entlarvt. Die Erhöhung des Benzinpreises sowie die Anfütterung einer kleinen Klientel von Profiteuren stiessen den Leuten sauer auf», meint Wasserfallen.

    Jetzt müssten die Massnahmen im bestehenden CO2-Gesetz verlängert werden, da sie sonst Ende 2021 auslaufen würden, sagt Nationalrat Wasserfallen im Interview mit der «Umwelt Zeitung». Den Antrag dazu habe er bereits persönlich formuliert. Wichtig für die Zukunft sei, dass alle Massnahmen in einem künftigen CO2-Gesetz nachhaltig gestaltet würden: «Diese müssen ökologisch, wirtschaftlich und sozialverträglich sein. Mit dem eingesetzten Franken ist möglichst viel CO2 einzusparen.»

    Die Schweiz muss laut Wasserfallen aber auch wegkommen einer «reinen Nabelschau»: «Die grossen CO2-Probleme bestehen klar im Ausland.» Deshalb fordert der liberale Umweltpolitiker internationale Verträge und Systeme, die für die Schweizer Exportwirtschaft echte Anreize schaffen, im Ausland zu wesentlich tieferen Kosten CO2 einzusparen. Von diesem «Klima-Freihandel» würden sowohl die Schweiz wie die Partnerländer in anderen Erdteilen profitieren.

    Auch in Bezug auf die Energiestrategie 2050 mahnt Wasserfallen nach dem Volksentscheid vom 13. Juni Korrekturen an. Man sei von der «Fehlannahme» ausgegangen, dass der Energiebedarf auch beim Strom künftig sinken werde. In Tat und Wahrheit führten die Effizienzmassnahmen sowie die Reduktion von fossilen Brenn- und Treibstoffen gerade zu mehr Stromverbrauch. Deshalb müsse die Wasserkraft «möglichst weit ausgebaut werden».

    Mehr Gewicht erhalten nach dem Nein zum CO2-Gesetz auch Stimmen, die dazu aufrufen, den Ausstieg aus der Kernenergie zu überdenken. Der geplante Weg zur «Energiewende» führe «in eine Sackgasse», mahnt Hans-Ulrich Bigler, Präsident des Nuklearforums Schweiz und Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes sgv. Der Plan, notwendige Klimaschutzmassnahmen und gleichzeitig eine sichere Stromversorgung ohne Kernenergie zu realisieren, werde nicht funktionieren. Ein wesentlicher Grund dafür seien die zu optimistischen Erwartungen an die Verfügbarkeit von Stromimporten aus dem Ausland, insbesondere im Winter. Biglers Fazit lautet deshalb: «Die Energiestrategie ist ohne Kernenergie kaum umsetzbar.»

    Atomkraft, ja gerne? Die Debatte ist neu lanciert!
    Die «Umwelt Zeitung» lebt den Grundsatz des «audiatur et altera pars», also immer auch die Gegenseite anzuhören. Eine der prominentesten Fürsprecherinnen der Energiewende und des nun an der Urne gescheiterten CO2-Gesetzes ist die grüne Nationalrätin und ehemalige Parteipräsidentin Regula Rytz. Sie betont in ihrem exklusiven Gastbeitrag für die «Umwelt Zeitung», dass das Verfehlen des Zieles, die Erderwärmung zu reduzieren, gemäss dem neusten Bericht des Weltklimarats «irreversible Auswirkungen auf Menschen und ökologische Systeme» habe. Selbst die SVP, die das CO2-Gesetz bekämpfte, anerkenne «die gefährlichen Folgen des Klimawandels und den Handlungsbedarf». Ihre Vorschläge für alternative Massnahmen seien deshalb ernst zu nehmen.

    Eine bemerkenswerte Aussage der ehemaligen Grünenchefin! Sie kündigt in der «Umwelt Zeitung» an, einen Schritt auf die SVP zuzugehen – und nimmt die Volkspartei gleichzeitig in die Pflicht, etwa bei der von Nationalrat Christian Imark lancierten Idee einer Solarstromoffensive, deren Überschüsse die Herstellung von synthetischen Treibstoffen ermögliche. «Das ist nicht neu und weder effizient noch billig», meint Rytz. Aber: «Es kann ein Baustein sein für die Neuauflage des Schweizer Klimaschutzgesetzes.»

    Dem Argument der Gegner, die Schweiz mit ihrem im globalen Vergleich vernachlässigbaren CO2-Ausstoss könne das Weltklima nicht retten, hält sie entgegen: «Gerade weil wir als rohstoffarmes Land auf Gedeih und Verderb mit der globalen Staatengemeinschaft verbunden sind, müssen wir die Latte hoch setzen. Denn nur als überzeugendes Vorbild können wir andere Länder ins Boot holen.» Eine der konkreten Forderungen der ehemaligen Grünen-Präsidentin lautet darum: «Die Schweiz muss eines der ersten Länder sein, das eine innovative Wirtschaft ohne fossile Brennstoffe entwickelt.»

    Szenenwechsel: Weg von der heissen politischen Diskussion in der Schweiz in den argentinischen Urwald! Aber wir bleiben beim Thema: Unser Reporter Johannes Jenny ist derzeit zu Gast beim indigenen Stamm der Mbyá-Guarani in der Provinz Misiones. In seinem Bericht beschreibt er das Potenzial dieses riesigen natürlichen Kohlestoffspeichers, das sich auch die Schweiz bei der CO2-Kompensation zu Nutze machen könne. Jenny, der im argentinischen Atlantikurwald Umwelt- und Klimaschutzprojekte betreibt, vermittelt unseren Leserinnen und Lesern auch tiefe Einblicke in die Denk- und Lebensweise der Einheimischen: «Die Mbyá kennen nicht zur die Pflanzen und Tiere und ihre Bedeutung für den Wald. Sie wissen auch, welche Arten welche Nutzung ertragen beziehungsweise wie sie gefördert werden können.» Arten, die sich langsam vermehrten, würden nicht oder nur im Notfall genutzt: «Raubbau ist aufgrund ihrer Weltanschauung ausgeschlossen.»

    Habe ich Ihnen etwa zu viel versprochen? Leben wir nicht in spannenden Zeiten? Es tun sich ganz neue Allianzen und Zusammenhänge auf. Faszinierend.

    Dabei wünsche ich Ihnen eine inspirierende Lektüre!

    Dr. Philipp Gut,
    Verleger

    Vorheriger Artikel«Öko-Bilanz des Schweizer Holzes ist unschlagbar»
    Nächster ArtikelEnergiestrategie ist ohne Kernenergie kaum umsetzbar