Die vielbefahrene Strasse im Zentrum des Kantonshauptorts ist zum Opfer von verkehrsplanerischen Experimenten geworden. Statt den Verkehr flüssiger und sicherer zu machen, haben sie zu Chaos und allgemeiner Verwirrung geführt.
Über viele Jahre hat sich die bestehende Verkehrssituation an der Aarauer Bahnhofstrasse bewährt. Das soll aber nicht heissen, dass alles immer so bleiben muss, wie es ist. Wenn sich eine Verkehrssituation verbessern lässt, so ist es die Änderungen wert. Am 22. August 2023 startete der Testlauf der neuen Verkehrsführung an der Bahnhofstrasse in Aarau. Das Ergebnis sitzt den meisten Verkehrsteilnehmern noch in den Knochen. Denn: Mit der Einführung des neuen Verkehrskonzepts ereignete sich ein eigentlicher Verkehrskollaps. Was war geschehen?
Die Bahnhofstrasse in Aarau erhielt ein Tempolimit von 30 Km/h. Nun war man aber zu normalen Tageszeiten auch früher selten schneller auf dieser Strasse unterwegs. Daran kann es nicht gelegen haben. Auch der Mittelstreifen, der bereits zuvor von den Fussgängern als Insel zum Queren der Strasse «missbraucht» worden ist, wird kaum der Grund dafür gewesen sein. Zum Chaos beigetragen hat vor allem der Umstand, dass die Einmündung der Kasinostrasse in die Bahnhofstrasse neu nicht mehr mittels einer Ampelanlage geregelt wird, sondern eine Lücke in der vortrittsberechtigten Bahnhofstrasse abgewartet werden muss, um dort einzubiegen. Im Stossverkehr gibt es diese Lücken nur leider kaum, weshalb es zu einem Rückstau auf der Kasinostrasse kam.
Zusätzlich wurden die zwei Spuren der Kasinostrasse bei der Einmündung zur Bahnhofstrasse auf eine Spur reduziert und ein Linksabbiegeverbot signalisiert. Die zweite Spur wurde zur Velospur mit der stolzen Breite einer ganzen Autofahrbahn. Der Rückstau auf der Kasinostrasse bewirkte weiter, dass es noch schwieriger wurde, von der Kasinoparkhausausfahrt in die nunmehr ein- statt zweispurige Kasinostrasse auszufahren. Alles in allem hatte man plötzlich einen grossen Zeitverlust, wenn man mit dem Auto schnell durch oder in die Stadt fahren wollte, um etwas zu kaufen oder zu erledigen. Dazu kamen Fussgänger, die nicht mehr wussten, wie sie die stark befahrene Bahnhofstrasse queren sollten, da alle Fussgängerstreifen entfernt wurden und auch die Ampeln dazu.
Test muss Test korrigieren
Diese Verkehrsprobleme führten letztlich dazu, dass in einer zweiten Testphase weitere Neuerungen Entlastung bringen sollten. So war vorgesehen, die Kasinostrasse für den Durchgangsverkehr ganz zu sperren und bereits bei der Laurenzenvorstadt eine Sackgasse zu signalisieren. Damit fielen auf einen Schlag ca. 50% des Verkehrs, namentlich der reine Durchgangverkehr, weg beziehungsweise verlagerte sich auf die nicht dafür ausgerichtete Poststrasse.
Weil aber die für Besucher der Stadt wichtigen Parkhäuser von Aarau sich auf der Durchfahrt Laurenzenvorstadt/Kasinostrasse befinden, dürfen in der zweiten Testphase die Autos für Erledigungen in der Stadt trotzdem noch bis zu den Parkhäusern fahren. Der Durchgangsverkehr, der von der Telli herkommt und zu einem grossen Teil auf die Autobahn bei Entfelden führt, soll also über die Poststrasse umgeleitet werden. Allenfalls auch hinter dem Bahnhof durch. Weil man aber gemerkt hat, dass bei der Igelweid ein grosser Coop City, ein grosser Migros und auch ein Manor sowie viele weitere Geschäfte sind, die nun einmal in dieser Grösse mitten in der Stadt nicht mit Lastenvelos beliefert werden können, gibt es auf der für den Durchgangsverkehr gesperrten Kasinostrasse dann wieder eine Ausnahme für Sattelschlepper.
«Frei auf der Wunschlinie»
Alles klar? Wer nun die Übersicht verloren hat, ist in guter Gesellschaft. Umgesetzt worden ist soweit ersichtlich von der zweiten Testphase denn auch nur noch die Verbreiterung des Mittelstreifens und die Abschaffung der Velospur auf der Bahnhofstrasse sowie die Entfernung des Fussgängerstreifens auf der Kasinostrasse. Letztlich sollten in der zweiten Testphase, so scheint es, vor allem die Unzulänglichkeiten der ersten Testphase korrigiert werden.
Davon gibt es noch viele mehr, nachfolgend handelt es sich um eine Auswahl: Alle Fussgängerstreifen an der Bahnhofstrasse wurden also entfernt, auch die Lichtsignale, dafür dürfen Fussgänger die Strasse überall überqueren, nach dem Wording des Kantons «frei auf ihrer Wunschlinie». Das klingt so verlockend und schön, hat aber einen Haken. Vortrittsberechtigt sind die Fussgänger nämlich nicht. Dies führt dazu, dass weder die Autofahrer noch die Fussgänger wirklich wissen, wie sie sich verhalten sollen.
So kommt es nicht selten vor, dass Fussgänger im Glauben, vortrittsberechtigt zu sein, was optisch auf die Strassengestaltung des Mittelstreifens in der Farbe Gelb mit Blumentöpfen zurückzuführen sein dürfte, die Strasse ohne Blick nach kommenden Autos queren. Autofahrer bremsen dann abrupt, zur Überraschung der hinter ihnen fahrenden Autos und vor allem zum Glück der nicht angefahrenen Fussgänger.
Allgemeine Verwirrung
Es ist zu hoffen, dass es so bleibt, kommt aber noch besser. Wie erwähnt, wurde mittlerweile auch der Velostreifen auf der Bahnhofstrasse entfernt. Damit wurde beabsichtigt, dass die Velofahrer, die im Gegensatz zu den oft stehenden Autos schnell fahren, die Fussgänger nicht davon abhalten, die Strasse zu queren. Nur ist die Erwartung, die Velofahrer würden sich pflichtbewusst und gehorsam im Feierabendstau geduldig zwischen den stehenden Autos einreihen, gelinde gesagt, optimistisch. Zu verlockend ist der breite Mittelstreifen, dessen gelbe Farbe auch nicht so klar erkennen lässt, für was genau die Fläche überhaupt da ist. Zudem gibt es noch das Trottoir, auf dem ebenfalls ausgewichen werden kann, unabhängig davon, ob man das darf.
Das Chaos, die fehlenden Ampeln, der über ein grösseres Gebiet betrachtet zusammengebrochene Verkehrsfluss und generell die allgemeine Verwirrung aller Verkehrsteilnehmenden nach der Einführung der ersten Testphase (trotz Infokampagnen und Plakatständern mit Verhaltensregeln «Mitenand statt gägenand») musste umgehend mit Verkehrslotsen abgemildert werden. So waren fortan zwei Verkehrslotsen vor allem dort beschäftigt, wo vorher eine Ampel gratis arbeitete. Ihre Aufgabe soll, so die Verlautbarungen, neben dem Helfen der Autos bei der Ausfahrt aus der Kasino- in die Bahnhofstrasse, auch sein, den Fussgängern über die Strasse zu helfen. Diese Funktion hatten früher die Fussgängerstreifen und Ampeln (ohne Lohn).
Es scheint so, als sei viel Geld vom Kanton und der Stadt Aarau für ein Konzept ausgegeben worden, das nicht so funktioniert, wie es erhofft worden ist. Wenn Passanten mittels Plakatständern erklärt werden muss, wie sie über die Strasse müssen, ist die vorhandene Signalisierung wohl kaum selbsterklärend, sonst hätte es die Plakatständer nicht gebraucht. Zum Glück ist es nur ein befristeter Testlauf. Möglicherweise wären ein paar 30er-Tafeln für die Bahnhofstrasse die wesentlich günstigere Variante mit besserem Ausgang gewesen.
Verantwortliche reden Chaos schön
Erstaunlich ist zudem die Berichterstattung der Verantwortlichen. Alle sprechen von positiven Ergebnissen und «mehrheitlichem» Erfolg. Was dieser Erfolg sein soll, konnte das verärgerte, da um Kunden gebrachte Gewerbe an einer Informationsveranstaltung der Stadt und des Kantons erfahren. Messungen hätten gezeigt, dass man auf der Bahnhofstrasse in die eine Richtung ca. 30 Sekunden schneller unterwegs sei, auf die andere Seite mit etwas weniger Zeitgewinn. Es erstaunt indes wenig, wenn man auf einer geraden, vortrittsberechtigten Strecke eine Ampel entfernt, dann zu messen, dass man (ohne Ampel) etwas schneller vom Punkt A zum Punkt B kommt. Dass man dafür vorher viele Minuten bis anfangs sogar eine Stunde im (durch die fehlende Ampel verursachten) Stau gestanden hat, um in den Genuss dieses Vorteils von ca. 30 Sekunden Zeitgewinn zu kommen, scheint nicht relevant zu sein.
Auch seien die Busse etwas pünktlicher, was grundsätzlich zu begrüssen wäre, wären da nicht die vielen anderen Probleme, die durch den Testlauf verursacht wurden. Die Busse halten nebenbei bemerkt nicht mehr in den früher vorhandenen Nischen, sondern auf der Strasse selbst. Irgendwie ist unklar, ob der Verkehr nun am Ende auf der Bahnhofstrasse flüssiger sein soll (entfernte Ampel) oder eben gerade nicht (Fussgängerquerung auf der ganzen Strasse, haltende Busse). Spricht man mit Passanten, so wird von den meisten ein negatives Bild mitgeteilt. Dieser subjektive Eindruck des Autors ist natürlich nicht repräsentativ, aber ein Indiz für die breite Ablehnung der Neuerungen. Kaum jemand findet sich, der zufrieden ist. Deshalb ist zu hoffen, dass der Testlauf an der Bahnhofstrasse in Aarau bleibt, was er ist: Ein (gescheiterter) Test.
Andreas Holenstein
Zur Person:
Andreas Holenstein ist Rechtsanwalt und GLP-Politiker.