Die Liebegg versteht sich als Aargauer Kompetenzzentrum für Landwirtschaft, Hauswirtschaft und Ernährung mit einer zentralen Drehscheibenfunktion zwischen Forschung, Produktion, Verarbeitung und Konsum. Direktor Hansruedi Häfliger gibt Einblick in das Landwirtschaftliche Zentrum und zeigt auf, was die grössten Herausforderungen, Erfolge und Zukunftsvisionen der Bäuerinnen und Bauern respektive der Land- und Ernährungswirtschaft sind.
Die Welt befindet sich gerade in einer Multikrise. In Europa tobt ein brutaler Angriffskrieg und die weltweit geopolitische Lage ist so labil wie noch nie. Wie geht es anlässlich dieser Rahmenbedingungen der Landwirtschaft im Aargau respektive in der Schweiz?
Hansruedi Häfliger: Unsere Schweizer Landwirtschaft produziert Nahrungsmittel auf weltweit höchstem Qualitätsniveau unter immer strengeren Umwelt- und Tierwohlanforderungen. Die seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs gestiegenen Auslagen für Maschinen, Energie, Diesel, Dünger, Futter und viele weitere Produktionsfaktoren führen zu einem gesamtlandwirtschaftlichen Defizit von rund 200 bis 300 Millionen Franken. Dementsprechend haben die Bauernfamilien mit grossem Administrationsaufwand und sinkenden Einkommen zu kämpfen.
Was beschäftigt Sie momentan als Direktor der Liebegg am meisten?
Nebst der administrativen Überforderung der Landwirte und der unfairen Margenverteilung zwischen Produzenten, Verarbeitung und Handel beschäftigen mich die ideologischen und wohlstandsgeprägten Diskussionen rund um die Zielkonflikte im Umweltbereich und im Bereich des ländlichen Raums ohne objektive Gewichtung der Systemrelevanz. Landwirtschaft ist Kreislaufwirtschaft per se mit komplexen und teilweise nicht belegten Zusammenhängen, je nach Produktionsrichtung in unterschiedlicher Ausprägung. Zukunftsträchtige Entwicklungsschritte sind komplex und können nicht mit Schwarz-Weiss-Denkmustern bewerkstelligt werden.
Nachhaltigkeit und Klimakrise sind ein Dauerthema. Wie nachhaltig ist die Aargauer Landwirtschaft?
Nachhaltigkeit definiert sich über die drei Indikatoren Ökonomie, Ökologie und Soziales. Mit seinen vielfältigen Agrarstrukturen, guten Produktionsbedingungen, kurzen Absatzwegen und innovationsfördernden Netzwerken ist die Aargauer Landwirtschaft im nationalen Vergleich wettbewerbsfähig. Auch die ökologischen Leistungen werden auf hohem Niveau erbracht. Die Abhängigkeit von den Direktzahlungen und der damit verbundene administrative Aufwand führt viele Betriebe an die Grenzen der sozialen Belastbarkeit. Wenn Politik und Handel die Anforderungen nicht zurückschrauben, wird unser System früher oder später kollabieren und die Abhängigkeit von ausländischen Lebensmitteln ohne Beeinflussbarkeit der Produktionsmethoden zunehmen.
Wie schaffen es die Aargauer Bäuerinnen und Bauern ökologisch zu produzieren, dabei wettbewerbsfähig zu bleiben und sich erst noch den ständig neuen Situationen anzupassen?
Mit jährlich über 1’400 neuen Lehrverhältnissen gehört Landwirt/-in EFZ immer noch zu den 10 meistgewählten Berufen in der Schweiz. Der Anteil der Zweitausbildungen in der Landwirtschaft liegt schweizweit über 50 Prozent. Auf Niveau höhere Fachprüfung HFP liegt der Beruf Landwirt/-in auf Platz 5 der meistabsolvierten Abschlüsse. Das Bildungsniveau in der Landwirtschaft ist entsprechend hoch und zudem häufig mit einer grossen beruflichen Leidenschaft und Leistungsbereitschaft verbunden. Die heutigen Bäuerinnen und Bauern sind bestens ausgebildete Unternehmer/-innen mit einer hohen Berufskompetenz und Bereitschaft, sich den sich laufend verändernden Anforderungen des Marktes und der Politik zu stellen.
Kürzlich wurden die Gewinnerinnen und Gewinner des Förderpreises Agroforst Aargau lanciert. Welche Idee steckt hinter dieser Auszeichnung?
Der Förderpreis unterstützt innovative Aargauer Betriebe, die ein Agroforst-System aufbauen und ihre Erfahrungen mit anderen Betrieben teilen wollen.
Was ist respektive bringt Agroforst?
Agroforst-Systeme haben zum Ziel, die positiven Eigenschaften von Bäumen und Sträuchern zu nutzen, um die Bodenfruchtbarkeit zu fördern und die Nahrungsmittelproduktion an den Klimawandel anzupassen. Je nach System können weitere Synergien entstehen, wie zum Beispiel Schattenwurf für Weidetiere oder ein gewisses Futterangebot mit Heckenpflanzen.
Wer fördert Agroforst?
Der Förderpreis Agroforst Aargau ist ein Projekt von Landwirtschaft Aargau und der Abteilung Landschaft und Gewässer im Rahmen des kantonalen Entwicklungsschwerpunkts Klima. Folgende Umsetzungspartner sind beteiligt: Bauernverband Aargau, Verband Aargauer Obstproduzenten, FiBL Schweiz, Fonds Landschaft Schweiz, IG Natur & Landwirtschaft, Birdlife Aargau, Jurapark Aargau, Stiftung KLAS, Verein Hochstamm Freunde.
Letztes Jahr gab es noch einen Rekord bezüglich Absolventinnen und Absolventen. Weshalb dieser Bauern-Boom im Aargau?
Seit 2020 sind die Lernendenzahlen in der Schweiz um jährlich rund 5 Prozent gestiegen. Im Aargau war die Entwicklung in den letzten zwei Schuljahren mit gegen 20 Prozent sogar überproportional hoch. Die Gründe für diese Entwicklung sind nicht abschliessend geklärt. Sicher spielt die demografische Entwicklung mit mehr Volksschulabgängern eine Rolle. Zudem haben die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg vermutlich die Sensibilität für eine sinnstiftende Arbeit in einem systemrelevanten Berufsumfeld erhöht.
Wie steht es mit dem Hofsterben im Aargau respektive dem Nachwuchs?
In den letzten Jahren haben im Aargau durchschnittlich 80 Lernende pro Jahr ihr Berufsdiplom als Agrarpraktiker/-in oder Landwirt/-in erhalten. Davon sind 40 bis 50 Personen potentielle Hofnachfolger/-innen. Die anderen nehmen eine Berufstätigkeit innerhalb der Branche auf oder starten eine Weiterbildung. Das Generationsintervall auf den Aargauer Landwirtschaftsbetrieben beträgt ziemlich genau 30 Jahre. 30 Jahre mal 40 bis 50 Personen pro Jahr ergibt 1’200 bis 1’500 Betriebe mit gesicherter Hofnachfolge. Im Aargau existieren insgesamt rund 3’000 Betriebe. Trotz hohen Lernendenzahlen bilden wir aktuell also für rund die Hälfte der Betriebe Nachfolger/-innen aus. Der natürliche resp. wirtschaftlich geprägte Strukturwandel im Umfang von jährlich knapp 2% wird also zunehmend durch eine fehlende Nachfolge beschleunigt.
Im Landwirtschaftlichen Bildungswesen herrscht Mangel an Fachkräften. Können Sie die Stellen in Lehre und Beratung an der Liebegg adäquat besetzen?
Der Fachkräftemangel betrifft die gesamte Branche inklusive vor- und nachgelagerter Bereiche. Auch im landwirtschaftlichen Bildungswesen besteht ein Kampf um Talente. Erfolgsversprechende Stellenbesetzungen bedingen vielfältige Massnahmen wie Auftritte an Berufsmessen von Hochschulen oder Möglichkeiten für Praktikas und insgesamt attraktive Arbeitsbedingungen mit Gestaltungsraum. Dank diesen Massnahmen ist es der Liebegg bisher gelungen, die Stellen mit geeigneten Fachkräften zu besetzen.
Sie sagten einmal «neben jedem Bauer steht eine starke Bäuerin». Wie hoch ist der Anteil der Frauen in der Aargauer Landwirtschaft und welche Bedeutung haben sie?
Die wirtschaftliche Bedeutung der Frauen für die Betriebe und die Branche nimmt zu. Der Anteil der Frauen, die sich als alleinige Bewirtschafterin eines Betriebes bezeichnen, ist in den letzten 10 Jahren von 5 auf 9 Prozent gestiegen. Über zwei Drittel der auf Betrieben tätigen Frauen geben an, den Betrieb gemeinsam mit ihrem Partner zu leiten. Im Bereich der landwirtschaftlichen Grundbildung beträgt der Frauenanteil am LZ Liebegg aktuell rund 20 Prozent, in der höheren Berufsbildung rund 10 Prozent. Dazu kommen rund 30 bis 35 Absolventinnen des Fachkurses Bäuerin am LZL pro Jahr. Am LZL selber beträgt der Frauenanteil etwas über 50 Prozent.
Was macht die Liebegg attraktiv?
Die Liebegg versteht sich als Aargauer Kompetenzzentrum für Landwirtschaft, Hauswirtschaft und Ernährung mit einer zentralen Drehscheibenfunktion zwischen Forschung, Produktion, Verarbeitung und Konsum. Als gut vernetzte Wissensvermittlerin nehmen wir innovative Trends auf und suchen zukunftsorientierte Lösungen für nachhaltige Lebensmittelsysteme. Ein Beispiel dafür sind die Liebegger Open Farming Hackdays, die schon zahlreiche Ideen und Lösungsansätze für bestehende Herausforderungen geliefert haben und im Rahmen von Pilotprojekten weiterentwickelt werden. Unsere rund 80 Mitarbeitenden (45 FTE) arbeiten also in einem sehr sinnhaften und spannenden Arbeitsumfeld mit dem Ziel, die Aargauer Landwirtschaft in den genannten Dimensionen voranzubringen.
Was sind die grössten Herausforderungen für die Aargauer Bäuerinnen und Bauern?
Die grössten Herausforderungen sind die sich immer schneller ändernden agrarpolitischen Rahmenbedingungen verbunden mit der fehlenden Planungssicherheit. Auch die grosse Abhängigkeit von den Direktzahlungen und das ideologisch geprägte Bauern-Bashing führen zu einem grossen emotionalen Druck auf die Bauernfamilien. Die Bauernfamilien arbeiten gerne in der Natur und mit der Natur und haben kein Interesse diese zu schädigen, entsprechend kompetent sind sie auch ausgebildet. Die Bauernfamilien anerkennen die bestehenden Klima- und Umweltprobleme und sind bereit, an Lösungen zu arbeiten. Die Diskussionen rund um die bestehenden Zielkonflikte sollten aber auf Basis von gesicherten Erkenntnissen und mit Blick auf die bestehende Verhältnismässigkeit erfolgen. Die Schweizer Landwirtschaft wird ihren Beitrag zur Verbesserung der Klima- und Umweltsituation leisten, dieser Hebel ist aber vergleichsweise klein und wird weder die Situation in Europa noch weltweit spürbar positiv beeinflussen.
Welche Projekte stehen für die nächste Zeit an?
Wir sind laufend in über 20 Projekten mit externer Beteiligung unterwegs. Beispiele dafür sind die Planzenschutzoptimierung mit Precision Farming PFLOPF zur Reduktion des Pflanzenschutzmitteleinsatzes oder das Botrytis-Projekt mit dem Ziel einer Fungizid-Reduktion bei Erdbeerkulturen mit Hilfe von UV-Licht. Im Tierbereich laufen verschiedene Projekte zur Ermittlung und Verbesserung der Klimabilanzen von Einzelbetrieben. Im laufenden Jahr sind wir zusätzlich beteiligt an den nationalen Feldtagen in Kölliken und an der Aargauischen Landwirtschaftsausstellung ALA23 in Lenzburg. Auch die neuen Massnahmen im Rahmen der kantonalen Neobiota-Strategie dürfte in diesem Jahr spürbare Aussenwirkung haben. Das wichtigste Projekt ist aber FutureLiebegg, welches zum Ziel hat, das Zentrum Liebegg auch baulich noch mehr auf die zukünftigen Bedürfnisse unserer Land- und Ernährungswirtschaft auszurichten.
Interview: Corinne Remund