Alle Jahre wieder wird in der Schweiz das Gespenst der Deindustrialisierung bemüht. Wie bei allen Geistern, ist die Deindustrialisierung eine Fiktion. Trotzdem ist ein Quäntchen Realität dabei.
Ökonomen unterscheiden drei Sektoren in der Wirtschaft. Der erste ist die Urproduktion, also die Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei. Der zweite beschäftigt sich mit der Umwandlung von Stoffen. Dazu gehören die der Bergbau und die Gewinnung von Steinen und Erden, das verarbeitende Gewerbe und die Herstellung von Waren, die Energie- und Wasserversorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen sowie das Baugewerbe. Der dritte Sektor umfasst die Dienstleistungen, zum Beispiel den Handel, der Tourismus oder den Finanzplatz.
Wo bleibt die Industrie? Hier fängt die Unschärfe an. Technisch ist sie das, was man «verarbeitendes Gewerbe und Herstellung von Waren» nennt. Viele, inklusive der Bund, behandeln Industrie als Synonym für den zweiten Sektor.
Wie man Bedeutung misst
Ökonomen greifen gerne auf die Wirtschaftsstatistik zurück, um die Bedeutung eines Sektors zu messen. Typischerweise versucht man den Beitrag einer Tätigkeit an der gesamten Wertschöpfung des Landes zu eruieren. So gehen in der Schweiz etwa 25,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts auf den zweiten Sektor zurück – so die Daten des Bundesamts für Statistik für das Jahr 2022. Etwa 0,6 Prozent kommen vom ersten Sektor und die restlichen rund 74 Prozent von den Dienstleistungen.
Damit hat der zweite Sektor eine höhere Bedeutung in der Schweiz als etwa in der EU oder in den USA. Dort macht er 23 respektive 18 Prozent des Inlandprodukts aus – gemäss der Weltbank für das Jahr 2022. Ob in der Schweiz, in der EU oder in den USA. Diese Anteile sind über die letzten 10 Jahre stabil geblieben.
Industrie ist nicht zweiter Sektor
Doch wenn man die Zahlen genauer anschaut, kann man nicht den zweiten Sektor mit der Industrie gleichsetzen, auch wenn der Volksmund und sogar der Bund es tun. Mindestens zwischen Bau und Industrie, beide im zweiten Sektor, wäre zu unterscheiden. Am besten versteht man Industria als verarbeitendes Gewerbe und Herstellung von Waren. Diese Aktivitäten machen 18,9 Prozent der Schweizer Wertschöpfung aus. Auf den Bau gehen 4,8 Prozent zurück.
Diese verfeinerte Sicht zeigt auch etwas anderes. Nämlich, dass Deindustrialisierung Geschwätz ist. Denn der Anteil der engen Kategorie am Bruttoinlandprodukt ist nämlich seit mindestens 1995 stabil. Dann belief er sich nämlich auf 19,5 Prozent. Der Rückgang auf 18,9 Prozent im Jahr 2022 ist minim. In diesen fast 30 Jahren hat sich das Bruttoinlandprodukt um etwa 130 Prozent gesteigert. Also ist auch die Wertschöpfung der Industrie in absoluten Zahlen um etwa 100 Prozent gestiegen.
Was an der Fiktion doch stimmt
Wertschöpfung ist aber nicht alles. Der Blick in die Beschäftigungs-Statistik zeigt, dass es doch Verschiebungen gegeben hat. Im vierten Quartal des Jahres 1995 waren noch 1 Million von um die 3,2 Millionen Stellen in der Schweiz im zweiten Sektor – immer gemäss dem Bundesamt für Statistik und gemessen in Vollzeitstellenäquivalente. Das entspricht einer Quote von 32 Prozent. Auf das verarbeitende Gewerbe gingen 677’000 Stellen oder 21 Prozent zurück.
Die Daten des vierten Quartals 2022 zeigen, dass der zweite Sektor immer noch etwa über eine Million Stellen generierte. Doch das Total aller Arbeitsplätze ist auf etwa 4,2 Millionen angestiegen. Das heisst, der Anteil dieses Sektors am Total aller stellen ist auf etwa 24 Prozent geschrumpft. Das verarbeitende Gewerbe stellte etwa 630’000 Stellen, was einer Quote von 15 Prozent entspricht.
Was bleibt?
Deindustrialisierung findet nicht statt. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung ist über die letzten 30 Jahre etwa stabil geblieben. Wie sich das Inlandprodukt der Schweiz vergrössert hat, so hat auch die Wertschöpfung der Industrie zugenommen.
Die Anzahl Arbeitsstellen im zweiten Sektor und spezifisch in der Industrie ist auch stabil geblieben. Was sich aber verkleinert hat ist seinen Anteil relativ zum Total der Arbeitsstellen der Schweiz. Das hat aber nichts mit Deindustrialisierung zu tun.
Henrique Schneider